Musikalischer und spiritueller Hintergrund

Mit meinem Engagement als Sängerin möchte ich die wertvollen Lieder und gedanklichen Impulse der Hl. Hildegard von Bingen (1098-1179) zugänglich machen. Hildegard von Bingen war eine herausragende spirituelle Denkerin. Ihre grundlegenden Ansichten können ganz aktuell den Prozess der kirchlichen Erneuerung unterstützen, den Papst Franziskus aufgenommen hat. Die Kompositionen der Hildegard von Bingen mit 77 Liedern und einem Singspiel stellen eine einzigartige, weibliche Facette der christlichen abendländischen Kirchenmusik dar. Mit ihrem gesellschaftlichen, spirituellen und künstlerischen Wirken als machtvolle Frau innerhalb der katholischen Kirche ist Hildegard von Bingen auch ein Sinnbild für eine Kirche, die Frauen Raum gibt zu wirken und zu leiten.


Hörbeispiel – CD | Hildegard Heilende Klänge  [18. Bonifati – gesprochene Version]

Die beinahe 1.000 Jahre alte Musik der Hildegard von Bingen ist eine späte Ausformung der Gregorianik, notiert als Melodieverlauf mit lateinischem Text, jedoch ohne konkrete Angaben zu der harmonischen und instrumentalen Begleitung. Diese Notation in Kirchentonarten unterscheidet sich von dem heutigen Dur-Moll-System, daher können die Kompositionen nicht einfach vom Blatt gelesen und gespielt werden. Die Kompositionen wurden erst in den 1920er Jahren aus den alten Kodizes in das Vier-Linien-System übertragen und weitere 100 Jahre später – also erst vor kurzem – in das aktuelle Fünf-Linien-System. Es ist somit eine Übertragung notwendig, die zum einen die Übersetzung in die heutige Notation erfordert und zum anderen ein Einfühlungsvermögen der Musiker*innen in die mittelalterlichen Tonverläufe und Klangwelten.


Hörbeispiel – CD | Hildegard Heilende Klänge  [19. Bonifati]

Mithilfe dieser Wandlungen möchte ich die Musik der Hildegard von Bingen in einem „neuen Gewand“ präsentieren. Neu heißt dabei kreativ gestalten, auf die Weise, mit der die Melodie und das Wort gerade am besten lebendig werden können. Dazu sind alle Farbklänge und Instrumente recht und willkommen (z.B. Akkordeon, Synthesizer), obschon es sie damals noch gar nicht gab oder man die Instrumente nicht so wohltemperiert wie heute stimmen konnte. Erlebbare, zugängliche Musik in ihrer Lebendigkeit für Hörende steht für mich im Vordergrund. Daher soll das „neue Gewand“ für diesen alten Schatz sich nicht der sogenannten Historischen Aufführungspraxis unterwerfen müssen (d.h. Bemühungen, die Musik vergangener Epochen mit authentischem Instrumentarium, historischer Spieltechnik und im Wissen um die künstlerischen Gestaltungsmittel der jeweiligen Zeit wiederzugeben). Meine Musik soll so volksnah sein, so einfach wie möglich mit Respekt vor ihrer ursprünglichen Klarheit und Komplexität.


Mein Bestreben ist, den zeitlichen Abstand von 1.000 Jahren in fühlbare Nähe zu verwandeln und die Musik der Hildegard von Bingen den Menschen dort nahe zu bringen, wo sie heute sind, Open-Air, auf Straßenfesten, in Konzerträumen – und manchmal sogar in der Kirche!


Fotografie: Hildegard von Bingen, Liber divinorum operum, Ministerium für Kulturerbe und Tourismus – Lucca State Library